Inhaltsangabe zu "Mit aller Macht: Roman"
Ostberlin 1967: Peter Körber hält die Tagebücher seines leiblichen Vaters in den Händen, den er nie kennengelernt hat. Zwischen den Seiten steht ein Teil der Familiengeschichte, den man besser im Dunkeln gelassen hätte. Doch Peter kann nicht länger die Augen davor verschließen, denn die Geschichte droht sich zu wiederholen: Er soll Henker werden, so wie auch sein Vater vor ihm. Kann er sein Schicksal noch abwenden oder hatte er von Anfang an keine Wahl?
Freimann, Angstmann, Blutrichter ...
„Freimann, Angstmann, Blutrichter, Hautabzieher, Dehner, Blutvogt oder Knüpfauf“ sind Synonyme für ein Gewerbe, das in der Vergangenheit weiterverbreitet war als heutzutage: der Beruf des Scharfrichters.
In Rainer Wittkamps Roman „Mit aller Macht" stehen zwei Generationen einer Familie im Mittelpunkt, deren männliche Mitglieder eben diesen Beruf ausgeübt haben. Hat die erste Generation dieses Handwerk noch aus freien Stücken ergriffen, hatte die nächste Generation keine Wahl.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Todesstrafe im Jahr 1949 abgeschafft, wohingegen die DDR noch bis 1987 an ihr festhielt. Konjunktur erlebte sie während der Zeit des Nationalsozialismus. Später wurde sie in der DDR angewandt, um das sozialistische System zu schützen und von Schädlingen zu befreien.
Der Roman „Mit aller Macht“ ist in beiden Epochen Deutschlands angesiedelt und beginnt mit dem Aufstieg und Fall des Peter Körber, der 1940 in Leipzig geboren wurde, ab dem 3. Lebensjahr bei seiner Tante und ihrem Mann aufgewachsen ist, und später von ihnen adoptiert wurde. Denn seine leiblichen Eltern haben den Krieg nicht überlebt. Peter wächst zu einem linientreuen und vielversprechenden jungen Mann heran, dem eine enorme Karriere in den Reihen derer, die am Aufbau der DDR beteiligt sind, prophezeit wird.
Von Erich Mielke höchstpersönlich protegiert, stehen ihm alle Türen offen. Mitte der 60er Jahre wendet sich das Blatt jedoch gegen ihn, als Peters Ehefrau republikflüchtig wird, eine Verfehlung, die auf den Ehemann zurückfällt und ihn ungewollt zum Mittäter macht. Als Wiedergutmachung und Möglichkeit der Rehabilitation verlangt Mielke von ihm, unliebsame DDR-Bürger hinzurichten. In dieser Situation erfährt er, dass sein leiblicher Vater Fritz Wernicke in der Zeit des Nationalsozialismus als Henker des Deutschen Reiches aktiv war. Im Gegensatz zu seinem Sohn hat Fritz die Stelle aus freien Stücken ergriffen, quasi als zweites berufliches Standbein zu seiner eigentlichen Tätigkeit als Hotelier und Gastronom. Fritz‘ Vermächtnis besteht aus mehreren Tagebüchern, in denen er seinen Werdegang von 1924 bis 1946 beschreibt. Anhand dieser Aufzeichnungen entsteht ein Eindruck über das bürgerliche Milieu der damaligen Zeit, gleichzeitig wird der Beruf des Henkers mit allen Eigenheiten akribisch betrachtet. Somit zeichnet sich das Bild eines Berufszweiges ab, über den man ungern spricht, der aber dennoch existiert hat, und der in vielen Staaten der heutigen Zeit immer noch ausgeübt wird.
Rainer Wittkamp hat trotz des morbiden Themas einen sehr lebendigen Roman geschrieben, der sich sprachlich an die jeweiligen zeitlichen Gegebenheiten anpasst. In dem jüngeren Handlungsstrang um Peter Körber, der vorwiegend in der DDR spielt, benutzt Rainer Wittkamp einen sozialistisch eingefärbten Sprachstil, der fast schon klischeehaft DDR-Romantik aufkommen lässt.
Sprachlich rudert er dann in den Nationalsozialismus zurück, so dass man sich von Stil und Ausdruck her in die 30er/40er Jahre zurückversetzt fühlt. Das ist gut gemacht und lässt diesen Roman sehr authentisch wirken.
Die Charaktere dieses Romans sind - bis auf wenige Ausnahmen - fiktiv. Das Nachwort (Verfasser: Christian Adam, der am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft, Fachbereich: Publikationen, Potsdam tätig ist) informiert jedoch darüber, dass Teile der Vitae prominenter Scharfrichter der damaligen Zeit, bei der Gestaltung der Protagonisten Peter Körber und Fritz Wernicke übernommen worden sind. Das macht diese Charaktere natürlich umso lebendiger.
Trotz aller Fakten zu diesem Beruf und trotz aller Sympathien für seine beiden Protagonisten, bewahrt Rainer Wittkamp ein hohes Maß an Objektivität gegenüber diesem Beruf. Der Autor beschönigt nichts, sondern geht sehr sachlich an die Darstellung des Berufsalltags eines Scharfrichters heran und spart auch nicht an der Beschreibung der seelischen Konflikte seiner Protagonisten.
Fazit: Ein hochinteressanter Roman, der auf sehr lebendige Weise Kapitel aus Deutschlands dunkler Geschichte erzählt und dabei eine Berufsgruppe ins Scheinwerferlicht rückt, ohne diese erstrahlen zu lassen.
© Renie